Wenn ich mich im April bzw. Mai auf Deutschlands größte Insel begebe, freue ich mich auf einen Vogel stets besonders: Die Wiesen-Schafstelze (Motacilla flava). Wo Rapsfelder von artenreichen Feldrainen gesäumt werden, wo es noch Feuchtwiesen gibt und Weidetiere nicht weit sind, taucht sie regelmäßig und in recht großer Zahl auf. Auf dem Deichweg zwischen Lobbe und Middelhagen zum Beispiel trifft man in jedem Frühjahr auf mehrere Brutpaare, die man mit Ruhe und Geduld gut beobachten kann.
Einige haben ihr Revier in den Rapsfeldern, in denen sie mit ihrem gelb-grauen Gefieder bestens getarnt sind. Die Männchen sitzen mit Vorliebe auf einem der höheren Rapsstängel und versuchen, mit ihrem Gesang die Weibchen für sich zu interessieren. In Revieren außerhalb der Rapsfelder thronen sie im Geäst der Bäume und Büsche oder auf einer höheren Wiesenpflanze. Beliebt sind außerdem die großen Misthaufen, die man manchmal mitten auf den Feldern sieht. Auf mich wirken Wiesen-Schafstelzen mit ihren gelben und grauen Farbtönen regelrecht elegant. Das leuchtende Männchen ist ein absolutes Highlight unter den Vogelmännern. Schlank und filigran sitzt es selbst bei starkem Wind auf Raps- oder Getreidehalmen. Artgenossen und andere Vögel, die ihrem Revier zu nahe kommen, werden gnadenlos vertrieben. Aber: Was für die gefiederten Freunde von unschätzbarem Vorteil ist, nämlich ihre Tarnung, macht es unsereins recht schwer, die Vögel im Pflanzengewirr auszumachen. Es ist daher ratsam und hilfreich, sich ihr Zwitschern einzuprägen. Hat man das verinnerlicht, entdeckt man sie recht schnell und kann sich an ihrem Anblick erfreuen. Obwohl man sie auf Deutschlands größter Insel oft in Rapsfeldern antrifft, sind sie natürlich nicht nur dort zu Hause. Ihr Name "SCHAFstelze" lässt ja schon erahnen, dass sie die Gesellschaft von Schafen und anderen Weidetieren mögen. Weidetiere bedeuten reichlich Fliegen und andere kleine Insekten, die noch dazu permanent aufgescheucht werden. In vollkommener Stelzenmanier - flink trippelnd und mit dem Schwanz wippend - jagen die Vögel dort ihrer Beute hinterher. Die Wiesen-Schafstelze, die zur Familie der Stelzen und Pieper gehört, ist um die 17 cm lang. Männchen und Weibchen sind im Gelände nicht so leicht zu unterscheiden, finde ich. Meistens fällt einem eh nur das sich produzierende Männchen mit der tiefgelb leuchtenden Brust auf. Beide Geschlechter haben einen blaugrauen Kopf mit einem weißen Überaugenstreifen. Der Rücken der Vögel ist grünlich. Die Flügelfedern sind dunkelbraun, die Schwanzfedern schwarz - beide besitzen einen weißen Rand. Beim Weibchen sind alle Farben blasser als beim Männchen, insbesondere die gelbe Brust.
In der Regel kann man Wiesen-Schafstelzen von April/Mai bis in den Oktober hinein beobachten. Auf Rügen sieht man allerdings bereits Ende August keine einzige Wiesen-Schafstelze mehr. Wiesen-Schafstelzen sind sogenannte Langstreckenzieher. Ihre Überwinterungsgebiete befinden sich südlich der Sahara - das ist eine ganz schöne Strecke für solch einen kleinen Vogel. Ich ziehe meinen imaginären Hut vor dieser Leistung.
Erfreulicher Weise existiert auch in der Nähe des Hahnebergs immer noch ein Vorkommen der interessanten Vögel. Zwischen Kornfeldern und einigen mit Tieren besetzten Bauernhöfen hatten in den letzten Jahren zwei Paare regelmäßig ein Brutvorkommen. Noch vor ungefähr 10 Jahren brüteten Schafstelzen auch am Fuß des Hahnebergs - dort, wo heute das dauerhaft eingezäunte Schafsgehege mit den Steinhaufen ist. Zwar gibt es dort dank der Tiere Unmengen an Insekten, aber aufgrund der permanenten Beweidung keine geschützten Brutmöglichkeiten mehr. Schafstelzen sind Bodenbrüter, die ihr Nest in einer Vertiefung zwischen Grasbüscheln oder anderen Pflanzen anlegen. Für die Brutzeit bedürfen sie ungestörter Lebensräume mit ausreichender Deckung für ihr Nest. Das ist im heutigen Schafsgehege schon seit Jahren nicht mehr gegeben. Wiesen-Schafstelzen haben es in unserer heutigen Agrarlandschaft alles andere als leicht. Viele ihrer ursprünglichen Lebensräume, zum Beispiel wechselfeuchte Wiesen und Verlandungszonen von Gewässern sind inzwischen so selten geworden, dass sie auf andere Wiesentypen und Ackerflächen ausgewichen und dort mehr oder weniger erfolgreich ist. Eine große Gefahr für brütende Wiesen-Schafstelzen stellt außerdem das häufige Mähen der Wiesen dar, wodurch ihre Gelege zerstört werden. Insektenmangel durch Pestizideinsatz tut ein Übriges.
Es ist wirklich sehr zu bedauern, dass diese schönen Vögel in meinem Umfeld derart selten geworden sind und eine Freude, sie auf Rügen so zahlreich beobachten zu können. Ich finde sie wunderschön und werde nicht müde, sie zu beobachten und zu fotografieren. Sie sind ein gefiederter Sonnenstrahl in unserer Vogelwelt, den zumindest meinereiner nicht alle Tage zu Gesicht bekommt.