Thiessow und Klein Zicker


Steilküste bei Klein Zicker.
Steilküste bei Klein Zicker.

Ein sehr kühler Morgen taucht die Landschaft in dichten, weißen Nebel, den die Sonne nur zögerlich vertreibt. Als ich meinen Morgenkaffee schlürfe, ist der Nebel jedoch einem klaren, blauen Himmel gewichen und ich entscheide mich für eine Wanderung nach Klein Zicker, denn dort bin ich seit mindestens zwei Jahren nicht mehr gewesen. Gegen 09.00 Uhr mache ich mich auf den Weg in Richtung Thiessow, meinem ersten Etappenziel, wo mich das Strandcafé mit herrlicher Aussicht und leckerem Essen erwartet. Zunächst aber heißt es, gute 4 Kilometer am Ufer der Ostsee entlang zu marschieren. Na ja, marschieren ist in meinem Fall reichlich übertrieben. Gemächliches Wandern passt schon eher, und zwar nicht, weil ich schlecht zu Fuß bin (okay, zugegeben, einige Knochen schmerzen sturzbedingt noch ziemlich, aber jut), sondern weil es so unendlich viel zu sehen gibt.

Lachmöwe (Larus ridibundus).
Lachmöwe (Larus ridibundus).

Obwohl mich auf dem Deich ein äußerst starker Westwind fast davon gewedelt hat, ist es am Ufer nahezu windstill. Der Wind weht ablandig und drängt das Wasser meterweit zurück. Der Strand wirkt deshalb völlig anders als sonst. Auf riesigen Sandbänken haben sich gefiederte Strandganoven eingefunden. Im Licht der noch tief stehenden Sonne putzen sich Möwen und Krähen das Gefieder, streiten miteinander oder suchen in den angespülten Seegras- und Muschelhaufen nach Nahrung. Einmal mehr nötigen mir die Flugkünste der Lachmöwe Bewunderung ab: Geschickt hält sie dicht über der Wasseroberfläche nach kleinen Fischen Ausschau. Hat sie einen entdeckt, stößt sie wie eine Rakete mit angelegten Flügeln ins Wasser, um kurz darauf mit einem Fischlein im Schnabel wieder in die Luft zu starten. Als Überraschung des Tages entpuppen sich kleine, zeternde Vögel, die mit einem Affenzahn von Sandbank zu Sandbank ziehen. Brandseeschwalben! Ich werd verrückt. DIE bekommt meinereiner nämlich nicht alle Tage zu sehen. 

In der Nähe von Thiessow.
In der Nähe von Thiessow.

Der Wind hat im Zusammenspiel mit den Wellen Linien und Kanten im Sand entstehen lassen. Millionen kleiner, gelber Pappelsamen haben sich auf den Sandrippeln niedergelassen - im Sonnenlicht wirken sie wie Goldstaub. Dort, wo Wasser und Wind eine Ansammlung von Muscheln, Holzstückchen und Federn hinterlassen haben, halte ich nach Bernstein Ausschau. Zwar sind weder Jahreszeit noch Windrichtung für eine Bernsteinsuche ideal, aber - kaum zu glauben - zwei kleine fossile Harzstückchen finden den Weg in meine Tasche! Ich freue mich riesig, denn mein bisheriges Bernsteinfindeglück gestaltete sich mehr als bescheiden. Als die Sonne das Meer in Richtung Thiessow in helles Silber verwandelt, habe ich die Hälfte meines Weges geschafft und lasse mich eine Weile am Rand der Dünen nieder. Meine Güte, ist es schön, Zeit und Muße für all das zu haben. Mir geht es gut. Ja. Ich liebe das. Noch dazu, wenn so wenige Menschen unterwegs sind wie heute. Gerade mal vier Leute sind mir über den Weg gelaufen.

 

Gegen 11.30 Uhr komme ich am Strandcafé in Thiessow an, das direkt an der Düne liegt und wo man sich mit freiem Blick auf die Ostsee stärken kann. Erstaunlicher Weise ergattere ich draußen einen schönen Platz (denn hier ist es immer voll) und bestelle ... Dorsch.  Im Thiessower Standcafé gibt es nämlich den besten gebratenen Dorsch auf dem Mönchgut. Nicht zu vergessen die wunderbare Dillsoße dazu. Danach gönne ich mir noch einen Milchkaffee nebst Eisbecher.

Stille Bewohnerin des Thiessower Lotsenberges.
Stille Bewohnerin des Thiessower Lotsenberges.

Pappesatt mache ich mich an den Aufstieg auf den Thiessower Lotsenberg, von dem man eine grandiose Aussicht über die gesamte Bucht zwischen Lobbe und Thiessow hat. Also auf den Weg, den man gekommen ist, während man auf der anderen Seite Klein Zicker  - das Tagesziel - in der Ferne auf seiner kleinen, gelben Steilküste thronen sieht. Im Frühling wimmelt es an den Hängen des Lotsenbergs nur so von farbenfrohen Blumen wie beispielsweise Scharbocks- und Lungenkraut, Weißes und Gelbes Buschwindröschen oder Lerchensporn von weiß bis violett. Statt vieler Blüten leuchtet nun das Laub der Bäume in diversen Farbtönen mit den roten Beeren des Weißdorns und der Hagebutten um die Wette. Ein beeindruckend großer Starenschwarm sucht auf einer Wiese nach Nahrung und hübsche Gehäuseschnecken haben Baumstämme erklommen, um der Kälte am Boden zu entfliehen. Vom Festland her ziehen inzwischen dunkle Wolken Richtung Meer. Sie tauchen die Landschaft in ein ganz eigenes Licht und lassen das Wasser der Ostsee düster wie flüssiges Blei schimmern.

 

Auf der anderen Seite des Lotsenberges kehre ich an den Strand zurück. Hier, in der kleinen Bucht zwischen Thiessow und Klein Zicker weht der Wind mit aller Macht und hat viele Kitesurfer ins Wasser gelockt. Beobachtet von Schaulustigen vollführen sie ihre waghalsigen Kunststücke, denen auch ich im Vorbeigehen ein paar Blicke widme.  Für mich wäre das nix. Ich habe einfach zu viel Respekt vor dem Meer, na ja. Als ich das Klein-Zickersche Steilufer erreiche, stelle ich etwas zerknirscht fest, dass es von Menschen nur so wimmelt. Hm. Okay. Offensichtlich ist gerade ein Reisebus angekommen. In der Hoffnung, sie mögen alle bald zum Kaffeetrinken verschwinden, lasse ich mich auf einem großen Stein nieder und genieße den Sonnenschein.

Wildbirne (Pyrus pyraster) im Steilufer von Klein Zicker.
Wildbirne (Pyrus pyraster) im Steilufer von Klein Zicker.

Etwas später sind tatsächlich alle Menschen verschwunden und ich bin an der kleinen, aber feinen und wunderschönen Steilküste allein. Obwohl nicht besonders hoch, ist diese Steilküste aus gelbem Geschiebemergel zusammen mit den diversen Findlingen darin und davor ein beeindruckendes Zeugnis der letzten Eiszeit, die die gesamte Landschaft Rügens geprägt hat. An sonnigen Tagen wie dem heutigen leuchtet sie intensiv gelb, fast wie angemalt. An ihrem Fuß kommen Fossilien- sowie Gesteinsfreunde ausgiebig auf ihre Kosten. Selbst dann, wenn das Gefundene nicht den Weg in die eigene Sammlung findet, gibt es immer etwas zu bestaunen, denn all diese Steine sind von Eismassen aus Norwegen oder Schweden beispielsweise zu uns gelangt. Und Menschen, die sich für Wildbienen und -wespen interessieren, sollten die Steilwand ganz genau in Augenschein nehmen, denn hier leben verschiedenste Arten. Darunter solche, die Experten gerade in Entzücken versetzen. Zwei solcher Experten stehen unmittelbar vor der Steilwand und betrachten mit leuchtenden Augen ein Insekt, das wie eine Hummel aussieht. Neugierig pirsche ich mich näher an die beiden heran und frage, was es denn Tolles zu sehen gäbe und erhalte prompt einen höchst interessanten Vortrag über die Bienen- und Wespenwelt am Klein-Zickerschen Höft. Über die Gemeine Schornsteinwespe, welche seltsame Röhren aus Sand baut, die aus der Steilwand heraushängen. Oder die Schwarze Pelzbiene, die hier ihr einziges Vorkommen in Deutschland hat. Nebenbei erfahre ich, dass die beiden älteren Herren extra aus Österreich angereist sind, um die Schwarze Pelzbiene zu sehen. Solche Begegnungen liebe ich. Und ich habe wieder was gelernt ...

Wildbirnen (Pyrus pyraster) im Steilufer von Klein Zicker.
Wildbirnen (Pyrus pyraster) im Steilufer von Klein Zicker.

Ein besonderes Erlebnis für mich sind die einzelnen Wildbirnen, die in der Steilküste ein hartes Leben führen. Im Frühling verzaubern sie die Steilwand mit ihrem weißen Blütenflor, im Herbst leuchtet das rote Laub weithin sichtbar. Übrigens: Sollte jemand angesichts ihrer kleinen, gelben Früchte kulinarische Genüsse vermuten, so sei gesagt, dass die ziemlich kleinen Früchte den nicht bieten. Wildbirnen schmecken nicht, verschaffen einem aber einen hervorragenden Pelz auf den Zähnen. Und sie werden nicht umsonst auch "Holzbirnen" genannt. Wer Lust auf schmackhafte Birnen hat, sollte daher tunlichst auf alle ihre Nachfahren, nämlich unsere Kulturbirnen zurückgreifen.

 

Zufrieden mit mir und dem Tag mache ich meine Fotos, sitze in der Sonne, halte nach Fossilien Ausschau und nähere mich über die Zeit langsam, aber sicher der Treppe, die ungefähr in der Mitte der kleinen Halbinsel hinauf in den Ort führt. Einen Moment lang überlege ich, ob ich noch auf der anderen Seite der Treppe auf Fossiliensuche gehen soll, aber angesichts der dortigen bedeutend höheren Steilküste, die vornehmlich aus eiszeitlichen Sanden besteht und reichlich instabil wirkt, entscheide ich mich fürs Kaffeetrinken im Ort. Wobei, Klein Zicker ist eigentlich gar kein richtiger Ort. Eher eine kleine Ansammlung von Häusern rechts und links der Straße, auf der Autofahren nur Anwohnern gestattet ist. Nachdem ich mich im Restaurant "Zum trauten Fischerheim" bestens bewirten lassen habe, begebe ich mich auf die Hügel, die von Magerrasen und einigen Baumgebieten dominiert werden.

Tagpfauenauge (Nymphalis io).
Tagpfauenauge (Nymphalis io).

Erstaunlicher Weise herrscht auf den Wiesen immer noch ein farbenfrohes Blühen: Gemeine Grasnelke, Sandstrohblume, Greiskraut, Wiesen-Flockenblumen und viele andere locken sogar noch Schmetterlinge wie das Tagpfauenauge an. Übrigens sollte jeder, der Klein Zicker einen Besuch abstattet, diese Hügel erklimmen, und zwar nicht nur bis zum Aussichtspunkt mit Informationstafel, sondern so weit, wie die Wege führen. Vom höchsten Punkt aus hat man unvergleichliche Aussichten nach Groß Zicker, Thiessow und auf Klein Zicker am Fuße der Hügel. Im Frühling sind die Hänge mit unzähligen Schlüsselblumen und blühenden, imposanten Obstbäumen übersät und an einem umgestürzten, uralten, aber dennoch lebenden Birnbaum gibt es eine Bank, auf der es sich herrlich ausruhen lässt (wenn sie denn frei ist).

Gegen 16.30 Uhr hat sich der Himmel vollständig bewölkt. Zeit für mich, den Rückweg anzutreten und so kehre ich über die Salzwiesen, vorbei am Thiessower Hafen zurück zum Strand. Etwas müde, den Kopf voller Eindrücke und Gedanken erreiche ich gegen 19.00 Uhr mein Urlaubszuhause. Was für ein Tag! Da kann man wirklich nicht meckern.