Wer diese hübschen Blüten geöffnet vorfindet, kann sicher sein, dass es zwischen 8 und 12 Uhr ist. Denn nur in dieser Zeit öffnet der Wiesen-Bocksbart (Tragopodon pratensis) seine Blüten. Es war kein Geringerer als Carl von Linné, der entdeckte, dass bestimmte Pflanzen nur zu bestimmten Tageszeiten ihre Blüten öffnen. Wer sich damit auskennt bzw. sich schlau macht, kann sich im heimischen Garten eine "Blumenuhr" anlegen, so wie Linné es seinerzeit in Uppsala getan hat. Vielleicht zusammen mit dem Nachwuchs, der bei dieser Gelegenheit gleich ein paar Pflanzen kennenlernen und interessante Dinge erfahren und erleben kann. Die Tatsache, dass der Wiesen-Bocksbart nur ein paar Stunden lang seine Blüten öffnet, trägt mit Sicherheit dazu bei, dass viele Menschen diese Pflanze gar nicht mehr wahrnehmen bzw. kennen. Dem Spaziergänger dürften eher die Samenstände des Wiesen-Bocksbarts auffallen, die denen des Löwenzahns sehr ähnlich sind, nur eben größer und noch grandioser - ein Wunderwerk der Natur. Einfach phantastisch. Der Pflanzenname kommt übrigens daher, dass die gerade abgeblühte und geschlossene Blüte an einen Bocksbart erinnert, weil ein Teil der ehemaligen Blüte als "Bart" heraushängt.
Wer den Wiesen-Bocksbart bestaunen möchte, sollte am Rand von Fettwiesen und -weiden sowie an Wegrändern nach ihm Ausschau halten, denn der Boden, auf dem er gedeiht, kann durchaus nährstoffreich sein. Auch trockene, steinige Standorte werden gern angenommen. Die Blüten erscheinen ungefähr ab Mitte Mai. Von da an können an den krautigen Pflanzen bis in den August hinein sowohl Knospen als auch Blüten und Samenstände gleichzeitig beobachtet werden.
Dort, wo der Wiesen-Bocksbart einmal erscheint, kann er in den Folgejahren regelmäßig angetroffen werden, falls nicht zu oft gemäht wird. Gehen seine Schirmchensamen mit dem Wind auf Wanderschaft, siedelt er sich meist auch in der Nähe des Ursprungsstandortes an. Mit einer Höhe von bis zu 70 Zentimetern und den unterschiedlichen Blüten- und Samenstandstadien an nur einer Pflanze ist der Korbblütler eine äußerst dekorative und zudem fotogene Pflanze - das finde ich jedenfalls. Es ist sehr schade, dass diese Pflanze heutzutage nahezu unbekannt ist und kaum beachtet wird. Denn der Wiesen-Bocksbart ist mehr als nur ein schöner Vertreter unserer Pflanzenwelt. Jahrhunderte lang wurde der Wiesen-Bocksbart nämlich als Gemüse angebaut und als Heilpflanze genutzt. Bis auf die Samen sind sämtliche Teile der Pflanze essbar. Junge Triebe soll man wie Spargel zubereiten, die Blätter hingegen wie Spinat oder roh als Salat. Die Wurzel wiederum ähnelt nicht nur im Aussehen der Schwarzwurzel, sondern auch im Geschmack. Alle Teile der Pflanze enthalten zudem einen weißen Milchsaft, der früher zur Behandlung von Warzen usw. genutzt wurde. Heutzutage wird der Wiesen-Bocksbart in Deutschland nicht mehr angebaut und ist wohl insgesamt eher unbekannt, während er in südeuropäischen, ländlichen Gebieten durchaus noch Verwendung in der Küche findet. Am Staakener Hahneberg sammelte eine alte, türkische Frau jahrelang die jungen Triebe und freute sich jedes Mal unheimlich darüber, dass es diese Pflanze bei uns gibt.
Seit vielen Jahren nehme ich vor, mal vom Wiesen-Bocksbart zu kosten und bringe es dann noch nicht übers Herz, die Pflanze zu beschädigen. Aber ein paar Samen habe ich vor einigen Jahren mitgenommen, aufs Beet gestreut, festgedrückt und feucht gehalten. Und das hat sich gelohnt. Der dekorative Wiesen-Bocksbart macht im Garten wirklich was her und außer einem warmen, sonnigen Platz und ausreichend Nahrung braucht er nicht viel. Er ist ein widerstandsfähiges Wesen, dessen gelbe Blüten von vielen Käfern, Hummeln und Bienen besucht werden und schon von daher von größtem Wert.
Sollten Sie Wiesen-Bocksbart in Ihrem Garten aussäen, machen Sie sich darauf gefasst, dass er ziemlich schnell Ihren Garten erobern wird, wenn die Bedingungen passen. Es kann also sein, dass er
mit der Zeit an allen möglichen Stellen auftaucht - in Beeten, Mauern, in Ritzen auf den Wegen usw. usf. Wenn die Pflanze sich wohlfühlt, bleibt sie. Abschließend sei gesagt, dass es diverse
Unterarten des Wiesen-Bocksbarts gibt, unter denen sich einige Seltenheiten befinden. Allerdings sind sie nicht leicht zu finden und meistens recht schwer bestimmbar. Als Beispiel sei hier der
Kleine Wiesen-Bocksbart (Tragopogon pratensis subs. minor) genannt, den ich in meiner Wohngegend nur von einem Standort am Staakener Bullengraben
kenne. Der Kleine Wiesen-Bocksbart ist in der Tat etwas kleiner als sein zuvor vorgestellter Verwandter, wirkt insgesamt filigraner und verzweigter, buschiger. Auch die Samenstände sind nicht so
groß und auffällig wie die des Wiesen-Bocksbarts. Im Gegensatz zu den Blüten des Wiesen-Bocksbarts bleiben die Blüten des zierlicheren Verwandten jedoch bis ungefähr 14 Uhr geöffnet. Wie dem auch
sei: Ob sie dem großen, kleinen oder anderen Bocksbärten begegnen - alle sind sie wunderschöne Vertreter unserer heimischen Flora und sollten respektiert und bewundert werden. In Zeiten, wo viele
Pflanzen und Tiere aus unseren Landschaften und Gärten verschwinden, sollten wir uns über das, was noch gedeiht, besonders freuen und es zu bewahren versuchen.
Der Kleine Wiesen-Bocksbart (Tragopogon pratensis subs. minor)
Für diesen Artikel standen mir folgende Quellen zur Verfügung: Mein über die Jahre erworbenes Wissen durch eigene Beobachtungen und Kräuterwanderungen sowie das Buch "Die Pflanzen Mitteleuropas" von Thomas Schauer, Claus Caspari und Stefan Caspari, BLV Buchverlag, GmbH & Co. KG, 2012, München, ISBN 978-3-8354-0985-9.