Neuntöter (Lanius collurio) gehören zur Singvogel-Familie der Würger, was mitnichten etwas damit zu tun hat, dass die Beute erwürgt wird. Es ist vielmehr so, dass Neuntöter die unverdaulichen Reste ihrer Beutetiere - zum Beispiel Knochen, Haare, Chitinpanzer von Insekten usw. - wieder hervorwürgen und ausspeien. Knochen und Haare? Ja, genau. Denn Neuntöter fressen nicht nur Insekten. Zauneidechsen und Mäuse stehen genauso auf seiner Speisekarte wie kleine Vögel. Als schlaue Vögel betreiben Neuntöter übrigens Vorratshaltung für schlechte Tage, in dem er Beutetiere auf Dornen spießt und so quasi lagert. Gesagt sei, dass dieses Verhalten nicht nur der Vorratshaltung dient, sondern ebenso der Zerkleinerung der Nahrung. Anders als Greifvögel besitzt ein Neuntöter nämlich keine kräftigen Krallen, um die Beute festzuhalten, sondern kleine Singvogelfüße. Wenn er also ein großes Insekt oder eine Maus auf einen Dorn aufspießt, ist die Beute fixiert und kann verspeist werden. Oft kann man Neuntöter außerdem dabei beobachten, wie sie das erbeutete Insekt auf eine feste Unterlage wie einen Holzpfahl oder Ast schlagen, um giftige Stachel zu entfernen oder die Beute aufzubrechen. In unseren Gefilden können Neuntöter nur in der Zeit von Mitte Mai bis in den September hinein beobachtet werden, denn sie sind Zugvögel, deren Winterquartiere im südlichen Afrika liegen.
Neuntöter sind mit ihrem typischen Aussehen leicht bestimmbar, auch wenn sich Männchen und Weibchen eklatant voneinander unterscheiden. Da die Bilder für sich sprechen und das Aussehen bzw. die geschlechtsspezifischen Unterschiede eindeutig erkennen lassen, spare ich mir ausführliche Ausführungen dazu. Die ersten Neuntöter, die ab Mitte Mai zu uns zurückkehren, sind die Männchen, die umgehend ein Brutrevier besetzen und von einer Warte aus singen. Der Gesang ist nicht laut und eher unauffällig, bis auf das schnarrende "Gwää", das weithin zu hören ist und als Stakkato auch als Warnruf genutzt wird.
Rückt die Ankunft der Weibchen näher (sie kehren einige Tage nach den Männchen zurück), steigert sich die Häufigkeit des Gesangs. Interessiert sich ein Weibchen für das Revier und den Neuntöter-Mann, beginnt die Balz. Mit Imponierflügen und zweischenzeitlichen Annäherungen an das Weibchen versucht das Neuntöter-Männchen das Weibchen für sich einzunehmen. Gelingt das, wird das Weibchen vom Männchen immer wieder gefüttert. Zwischendurch kommt es zur Nickbalz, indem zuerst das Männchen Nickrituale ausführt. Wenn sich irgendwann beide Vögel zunicken, ist die Sache klar und es geht an die Auswahl des Nistplatzes. Dabei macht das Männchen Vorschläge und das Weibchen trifft die Entscheidung. Am Bau des napfförmigen Nestes beteiligen sich beide Vögel. Es wird bevorzugt in Dornensträuchern wie Hundsrosen, Weißdorn oder Brombeergestrüppen angelegt, denn Dornensträucher bieten Schutz vor Fressfeinden und Witterungseinflüssen. Als Material dienen robuste Kräuterstängel, kleine Zweiglein und Grashalmen. Moos, feine Haare, Weidensamen und Federn verleihen dem Nest Stabilität und dienen zudem der Innenausstattung.
Unmittelbar nach der Fertigstellung des Nestes erfolgt die Eiablage. Für die Bebrütung der 5 bis 6 Eier (selten mehr) ist das Weibchen zuständig, das in dieser Zeit vom Männchen gefüttert wird oder für kurze Zeit das Nest verlässt, um selbst zu jagen oder sich an aufgespießter Nahrung gütlich zu tun. Nach ungefähr zwei Wochen schlüpfen die Jungen.
Das Männchen ist nun für die Versorgung der Familie verantwortlich. Beute wird an das Weibchen übergeben, welches diese an die Jungvögel im Nest verfüttert. Nach weiteren ungefähr zwei Wochen verlässt der Nachwuchs das Nest und verteilen sich zunächst in Nestnähe, später in der weiteren Umgebung. Nach wie vor werden sie von den Altvögeln betreut. In dieser Zeit bieten sich hervorragende Beobachtungsmöglichkeiten, wenn man sich ruhig verhält und die Vögel nicht stört. Überhaupt: Da Neuntöter sehr reviertreue Vögel sind, kann man sie immer wieder in ihrem Brutareal beobachten und gewinnt so wunderbare Einblicke in das Leben der schönen Vögel. Die weibchenfarbigen, hellschnäbeligen Jungvögel sind übrigens insbesondere in den ersten Tagen nach dem Verlassen des Nestes weithin zu hören, sobald sich ein Altvogel nähert. Oft wird auch lautstark miteinander gestritten, so dass sie einem kaum verborgen bleiben, wenn man aufmerksam ist. Dort, wo eine Neuntöter-Familie wohnt, ist immer etwas los und die Elternvögel haben unermüdlich mit der Versorgung der Bande zu tun. Meine Erfahrung ist außerdem, dass Jungvögel meist bedeutend weniger scheu sind als die Altvögel. Zumindest dann, wenn der Nistplatz oft von Menschen frequentiert wird, zum Beispiel in der Nähe von Wegen oder Sportplätzen.